Wikingeranästhesie

Teil 1 (von 4)
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Die "Wikinger-Anästhesie" [WA] ist als ironisches Marken-zeichen für eine Technik und die ihr zugrunde liegende Philosophie zu verstehen. Den letzteren Aspekt habe ich auf Englisch in dem Buch "A Philosophical Approach to Anaesthesia" [1] 1994 publiziert, allerdings ohne auf die technischen Aspekte einzugehen. Dadurch entstand doch der Bedarf, eine Technik zu beschreiben, die von den sonst praktizierten Anästhesien grundlegend verschieden ist.

In der Anästhesieliteratur wird viel von Medikamenten, aber sehr wenig von Methoden gesprochen. Denkt man ein Wenig darüber nach, darf dies eigentlich nicht verwundern: einerseits widerstrebt es uns, eine Anästhesiemethode als "Kochbuchrezept" zu beschreiben, die individuell verschiedenen Ansprüchen vieler Patienten und besonderen Situationen entspricht; andererseits muß man, um etwas zu veröffentlichen, eine Wirkung untersuchen, und dies nach Möglichkeit in kontrollierten Studien. Somit ist es einfacher, die Wirkung eines Anästhetikums gegenüber einem anderen auf z.B. den Augendruck zu untersuchen als den Einfluß einer ganzen Methode auf z.B. das Wohlbefinden der Patienten. Womit könnte man schließlich eine neue Methode vergleichen? Hinzu kommt, daß die Methode in der Hand des einen Anästhesisten nicht gleich aussieht wie in der Hand des nächsten. Nach meiner Erfahrung wird jede neue Methode modifiziert bevor sie erlernt wird. Dadurch fällt vieles, das nicht im Sinne des "Erfinders" verwendet wurde, ungerechterweise in Mißkredit.

Ziele der Wikinger-Anästhesie

Die Ziele der Anästhesie verstehen sich sehr pragmatisch im Erreichen eines zufriedenen Patienten, eines Chirurgen ohne Anlaß sich über die Anästhesie zu beschweren (obwohl es außerhalb unseres Zieles liegt auch den Chirugen zufriedenzustellen), eines selbstzufriedenen Anästhesisten und dafür soll in das Team kein Anwalt eingeschaltet werden. Der Patient erwartet, daß er keine Erinnerung an die Operation hat, wobei man hinzufügen muß, daß er auch keine unterbewußten Neurosen davontragen darf. Der Chirurg verlangt in der Regel einen relaxierten oder sonst regungslosen Patienten, wird aber nicht fragen wie dieses erreicht wird. Der fehlende Anwalt reflektiert die Sicherheit, die von allen Seiten verlangt wird. Aber wie der Anästhesist zufrieden wird, darüber gibt es mehrere, z. T. widersprüchliche Zielsetzungen.

Allgemein wird verlangt, daß der Patient "schläft", worunter eine Art der "Bewußtlosigkeit" verstanden wird. Wenn der Patient "tief schläft", gibt es für ihn wohl keinen Anlaß, auf äußere Reize zu reagieren. Dies mag seine Richtigkeit haben und es funktioniert ja auch, in der Regel mit schönen Anästhesieprotokollen intraoperativ; dafür gibt es verschiedene Probleme postoperativ, von denen viele Anästhesisten mangels späteren Kontaktes mit ihren Patienten leider nur wenig wissen (siehe I. "Qualitätskontrolle"). Hinzu kommt das Problem, die "Bewußtlosigkeit" zu verstehen - offenbar geben die meisten sich hier mit dem intuitiven Gefühl zufrieden, das mit der fehlenden Ansprechbarkeit verbunden ist.

In der WA soll grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß der Patient nicht "schläft", also nicht ohne eine Art Bewußtsein ist. Zwar soll der Patient hinterher diesen Eindruck erhalten, eines der oben aufgeführten pragmatischen Ziele für eine gute Anästhesie. Nur schließt dieser Eindruck nicht aus, daß er mithören und mitreagieren kann. Die Geräuschkulisse muß diesem Rechnung tragen: es dürfen keine abwertenden Äußerungen über den Patienten gemacht (siehe "the fat lady syndrome" [2]), keine negativen Prognosen geäußert und keine Panikstimmung verbreitet werden. Dies ist leichter geschrieben als im Alltag durchgeführt, und wir müssen uns gegenseitig stets daran erinnern. Vielleicht hilft es, wenn wir uns den Patienten in einer Art Trance vorstellen: er hört eigentlich alles, läßt sich aber nicht aus seiner Trance bringen, wenn die Außenwelt kein Drama vermuten läßt. Zudem kann man nicht davon ausgehen, daß die Amnesie vor unterbewußten Neurosen schützt. Dies wird in der hypnosebedingten Trance therapeutisch ausgenützt, in der Anästhesie liegen genügend Berichte vor, daß traumatische Neurosen entstehen können - gerade wenn das Ziel der Anästhesie ein schlafähnlicher Zustand war.

Wer sich dieses Ziel nicht setzen kann - einen prinzipiell nicht-schlafenden Patienten in der generellen Anästhesie - soll es mit der WA lieber bleiben lassen. Allerdings soll man sich dann fragen, ob man nicht doch einer Täuschung unterliegt. Wer hingegen das Ziel akzeptiert, muß sich jetzt um die Voraussetzungen kümmern.

Praktische Voraussetzungen

Die Voraussetzungen für eine gelungene WA sind A) eine FiN2O von 70-72% (ohne Unterbrechung), B) Normoventilation bis leichte Hyperventilation, C) klinisch komplette, dauerhafte Relaxation, D) hämodynamische Stabilität und E) minimaler Opioidverbrauch. Dafür wird kein volatiles Anästhetikum eingesetzt. Die F) Prämedikation muß als Teil der Anästhesie verstanden werden. Endlich könnte die Einführung der G) Koinduktion von Benzodiazepinen und Barbituraten in reduzierter Dosis die WA (vorerst ab einer Dauer von einer Stunde) günstig beeinflussen. Dies sind die basalen Voraussetzungen (die von Anderen selten erfüllt werden), aber mit der Zeit habe ich weitere hinzugefügt, die vor allem H) dem perioperativen Patientenkomfort dienen sollen, teilweise aber auch aus Sicherheitsaspekten eingeführt wurden. Als Schlüssel zu diesen Verbesserungen diente der (fast) konsequent durchgeführte postoperative Besuch des Anästhesisten und die persönliche Führung einer I) Qualitätskontrolle, in der alle anästhesierelevanten Beschwerden der Patienten aufgeführt werden. Weitere J) Sicherheitsaspekte werden dann zum Schluß separat diskutiert. Schließlich soll eine Ergänzung der K) Kombinationsanästhesie mit periduraler Analgesie erwähnt werden, in der diese Anästhesieform eine weitere Facette erlebt.

A. FiN2O-Niveau

Die WA ist mehr als alle andere Methoden abhängig von viel Lachgas. Nur durch eine konsequente Ausnützung des recht hohen Anteils von nicht unter 70% Lachgas ist es möglich, diese Anästhesieform durchzuführen, und es ist nicht zulässig, auch nur vorübergehend den Sauerstoffanteil zu erhöhen, ohne vom Prinzip der hier beschriebenen Anästhesie, durch Ergänzung mit anderen Mitteln, abzuweichen. Mit dieser Forderung stellt sich das Verfahren in den Mittelpunkt der Kritik, die es überhaupt gegen die Verwendung von Lachgas gibt, und es gibt sicherlich Indikationseinschränkungen bei denen das Lachgas tatsächlich bedenklich erscheint.

Allerdings schließe ich mich nicht allen Ansichten gegen das Lachgas an. Wir müssen uns auch gegen die industriell motivierten Angriffe und gegen die Modewellen wehren. Das Lachgas hat keine "Lobby", hingegen werden viele neue Anästhetika vorgeführt, die nicht die Nachteile von Lachgas besitzen, dafür vielleicht andere, noch unbekannte. Durch die Verwendung während 150 Jahren wissen wir doch sehr viel über N2O, was wir über etwas neues noch nicht wissen können.

Die Langzeitnebenwirkung von Lachgas im Sinne einer Methionin-Synthesehemmung ist eigentlich uninteressant für die operative Anästhesie - viele Versuche, das Lachgas mit dieser Begründung gefährlich zu machen, sind gescheitert. Umgekehrt sind viele Anästhetika auf der gleichen Bühne, der Intensivstation (humanmedizinischer Übungsplatz für Langzeitwirkungen der Anästhetika), mit unvorstellbaren Nebenwirkungen herausgekommen, die ebenfalls ihre Sicherheit auf der operativen Anästhesie in Frage gestellt haben, vermutlich ebenfalls zu unrecht. Dies sorgt immer wieder für neue Modewellen in der Anästhesie.

Nicht so leichtfertig sollte man mit der beruflichen Exposition umgehen, wenngleich diese (meiner Empfindung nach) bei den volatilen Anästhetika bedeutsamer ist. Selbst bei kompletter Absaugung kann man die Diffusion von Lachgas durch die Haut nicht, und durch Teile des Anästhesiegerätes nur teilweise begrenzen. Diese Begrenzung sollte dafür so komplett wie möglich erfolgen, z.B. ist es Unsinn einem Anästhesiegerät zu erreichen, wo schon das Lachgas im OP-Saal minutenlang vor Anschluß des Patienten frei auslief.

Dies führt dann zum Umweltaspekt. Die Rolle des Lachgases als verbleibende Substanz in der Stratosphäre gibt zu denken. Selbst wenn nur wenig ausgeschleppt wird und es auch andere Quellen dafür gibt, scheint diese Substanz in der Höhe nicht mehr abgebaut zu werden. Denkbar wäre, daß die Anästhesiegase in einer Klinik separat abgesaugt und in einem Behälter komprimiert werden, mit dem Zweck eines späteren Recyclings. Dies ist nur möglich, wenn man dazu gezwungen wird und der Recycling-Prozeß mit der Anschaffung bezahlt wird ("Öko-Steuer"). Die Raumlüftung muß dafür in ein separates Absaugverfahren geleitet werden (natürlich dann ohne Recyclingsabsichten). Es verdient Erwähnung, daß einiges an Kosten und Umweltverschmutzung durch die konsequente Einstellung an low-flow volume Beatmung nach der Einleitung eingespart werden kann. Das Fehlen von volatilen Anästhetika macht diese Aktion unproblematischer, wenn auch weniger kostengünstig.

Und dann gibt es natürlich Operationen oder Zustände, wo das Lachgas nicht, oder nicht in ausreichender Konzentration durch die Vergrößerung luftgefüllter Räume gegeben werden kann, (z.B. Pneumothorax, ausgeprägter Ileus, Mittelohrchirurgie) oder weil es schlecht toleriert wird (z. B. Sectio bis zur Entbindung, von vornherein erhöhter Sauerstoffbedarf des Patienten). Ist eine Nachbeatmung geplant, kommen die anderswo gelobten Vorteile der WA nicht zum tragen, und hier kann eine andere Methode von Vorteil sein.

Lachgas hat nun gewisse, einzigartige Vorteile. Es wirkt analgetisch und amnestisch, es wirkt schnell und, nach Ausleitung, nur sehr kurz (ist daher gut steuerbar). Es ist ferner recht billig, zumindest solange eine umweltverträgliche Entsorgung fehlt. Die Forderung nach 70% Lachgas in der Inspirationsluft beruht auf dem Eindruck, daß man über die 67% hinaus muß, um die Amnesie zu gewährleisten, die sicher einen Teil dieser Anästhesieform ausmacht (weshalb sie vom überwiegenden Teil der Anästhesisten abgelehnt wird). In dieser hohen Dosis hat Lachgas eine erhebliche analgetische Potenz, aber auch eine noradrenerge Stimulation zur Folge.

Wenn ein größerer Flow benötigt wird, verwende ich 5 l N2O und 2 l O2. Dieses wird im gleichen Verhältnis um annähernd die Hälfte reduziert zu 3,0/1,2 l. So bald wie möglich soll dann low-flow mit dem gleichen inspiratorischen FiO2 (z. B. 1,0/0,5 l ) verwendet werden.

Wird diese Konzentration unterbrochen (z.B. Sauerstoff Schnellflow bei leerem Beatmungsbeutel), ist die Amnesie durch die kurze Wirkdauer von Lachgas nicht mehr gewährleistet. Wird ein Sättigungsabfall bei Palacos-Implantation erwartet oder tritt er ein, muß ein anderes Mittel für die Zeit der FiO2-Erhöhung gegeben werden. Diese Ergänzung widerstrebt vielen, weil der Sättigungsabfall oft von einem Blutdruckabfall begleitet wird [siehe J. Sicherheitsaspekte]. Oft ist die Konzentrationsänderung in der Inspirationsluft jedoch nur eine Folge von Sorglosigkeit um dieses Problem.

Weiter mit Teil 2

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